History Scene Investigation

Auf der Spur von ungeschriebenen Geschichten

Hora Nica, Hora Gringo – Wieso Lateinamerikaner zu spät kommen und Europäer und Amerikaner pünktlich sind Ein Versuch

von Marliese Mendel

Anstatt einer Einleitung – Was der Teufel mit den Uhren zu tun hat

Man nannte ihn den Teufelspapst1. Eine Legende erzählt, dass Papst Silvester II. einen mechanischen Kopf erfunden habe. Dieser Kopf, ein wahres Teufelszeug, konnte Fragen mit „ja“ oder „nein“ beantworten. Vor seinem Tod am 12. Mai 1003 in Rom rief Silvester II seine Gefolgsleute zu sich und ordnete an, dass sein Körper zerstückelt und die Teile in die Jauchengruben und Müllhalden der Stadt geworfen werden sollten. Er begründete seinen Wunsch damit, dass sein Körper vielleicht wohl dem Teufel gehöre, aber er in seiner Seele niemals dem Pakt mit dem Teufel zugestimmt habe2.

Bereits als Abt Gerbert von Aurillac hatte er – so wollen es spätere Legenden – seine Seele dem Teufel verkauft, um dafür technisches Wissen zu erhalten. Eine seiner Erfindungen soll auch die Uhr gewesen sein. Seine Mitbrüder hatten das Morgengebet zu seinem Ärger oft verschlafen. Die Uhr, die sich nun in ganz Europa rasant ausbreitete, dient also dem Lobe Gottes – und ist zugleich Teufelswerk. Wann und wie die erste mechanische Uhr nach Nicaragua kam, war nicht zu eruieren. Die meisten Uhren an nicaraguanischen Kirchtürmen zeigen schon seit Jahrzehnten immer die gleiche Uhrzeit an.

Foto: Marliese Mendel

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Im Fischerdorf San Juan del Sur an der Pazifikküste schlug der Messdiener die Zeit mit den Kirchenglocken, verzählte sich jedoch häufig und fing dann wieder von vorne an, was die Zeitangabe zu einer höchst unzuverlässigen Sache machte und was das Zuspätkommen der Menschen zu erklären scheint. Spätestens seit der Einführung von Mobiltelefonen mit Zeitanzeige hätte sich das Problem des Zuspätkommens jedoch eigentlich erledigt haben sollen. Aber die Nicaraguaner kamen weiterhin zu spät. Denn in Nicaragua, so sagt man, gehen nur zwei Sachen schnell: Gerüchte verbreiten sich blitzartig und Taxifahrer rasen, wie es ihre alten Autos zulassen. Alles andere geht erstaunlich langsam, und das scheint allgemein akzeptiert zu sein. Jeder kommt stets zu spät. Egal, ob zum Geschäftstreffen geht oder zur privaten Verabredung. Aber wieso ist das so?

Sind Mentalitäten, Geschichte oder Wirtschaftslage an Verspätungen Schuld?

Mentalitäten

Foto: Marliese Mendel

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In einem Zeitungsartikel fragte sich der nicaraguanische Journalist Edwin Sanchez, ob die Unpünktlichkeit der Nicaraguaner etwas mit den verschiedenen Glaubensrichtungen zu tun habe. Er kam zu dem Schluss, das seine katholischen oder evangelischen Landsleuten sogar zu Begräbnissen zu spät kämen. Also müsse der Spruch „Naci impuntual moriré impuntual“ („Ich bin unpünktlich geboren, also sterbe ich auch so“) gelten. Somit sei den Nicaraguanern die Unpünktlichkeit angeboren3. Diese „angeborene Unpünktlichkeit“ hat eine erstaunliche Vielzahl an Begriffen für das Zuspätkommen hervorgebracht: Je nachdem, wie spät der Nicaraguaner dran ist, hat er verschiedene Ausdrücke dafür:

„Ya voy“ („ich gehe jetzt“) heißt in etwa „Ich denke darüber nach, los zu gehen“.

„Voy a llegar“ („ich werde bald ankommen“) meint „Ich werde kommen, nur wer weiß wann“.

„Estoy en camino“ („ich bin unterwegs“) soll bedeuten: „Ich habe meine Schuhe schon angezogen, und bin am Weg zur Tür hinaus“; es lässt sich allerdings eher übersetzen mit „ich bin noch am zubinden meiner Schuhbänder“ bzw.„Ich bin noch nicht unterwegs“.

„Manana es otro dia“ („morgen ist auch noch ein Tag“) hingegen heißt: „Es ist noch genügend Zeit“.

Mit „Poner la Pila“ (wörtlich: Leg die Batterien ein „aber jetzt geht es los“) wird nun endlich der Aufbruch markiert.

Auch Frauen lassen oft ihre Liebhaber lange warten, um auszutesten, wie sehr sie begehrt werden und wie lange er bereit ist, auf sie zu warten. Das scheint sich auch in den multikulturellen Beziehungen wieder zu spiegeln. Die amerikanischen oder europäischen Partner haben sich auf die stetigen Verspätungen eingestellt. In dem sie ihm/ihr eine falsche Uhrzeit sagen, nämlich eine Stunde früher als der geplante Termin. Dies geht auch manchmal schief, „weil sie aus unerfindlichen Gründen pünktlich ist, und wir nun zu dem Event zu dem jeder zu spät kommt, pünktlich sein werden.“ Oder: „ich tue was ich will, bis sie endlich fertig ist, so dass wir los können zu welchem Event auch immer wir jetzt zu spät kommen.“

Aber es gibt auch eine verlässlichere Ausnahme bei der Unpünktlichkeit der Nicaraguaner: Sie lassen alles liegen und stehen und verzichten sogar auf ihr Abendessen, wenn es gilt, pünktlich zur Ausstrahlung ihrer Lieblings-Telenovela zu Hause zu sein.5

Hora Nica und Hora Gringo

Foto: Marliese Mendel

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In Nicaragua wird zwischen zwei Zeitkonzepten unterschieden: „Hora Nica“ und „Hora Gringo“. In einem Fragebogen hat die Verfasserin Ausländer in Nicaragua gebeten, die beiden Zeitbegriffe zu definieren. „Hora Nica“, die „Zeit der Nicaraguaner“, wurde wie folgend beschrieben: „Innerhalb einer Stunde des vereinbarten Treffens.“ „Zwei Stunden später als geplant.“ „Ungenau definierter Zeitraum. Ungefähr-Zeit. Häufig erheblich später als die vereinbarte Nominalzeit“. „Lokale Zeit“. „Wann immer du Zeit hast, oder zwei Stunden später “. „Es ist wenn es ist, und wenn nicht, dann nicht“. „Wann immer sie glauben zu kommen“.
Es ist eindeutig zu sehen, dass man davon ausgeht, dass „Hora Nica“ einen Zeitraum bezeichnet, der in keiner Weise eingegrenzt werden kann. Mehrere Befragte wiesen darauf hin, dass sie zu Verabredungen mit Nicaraguanern stets Kreuzworträtsel oder Bücher mitnehmen, um die Wartezeit zu überbrücken.

Die Teilnehmer der Umfrage wurden weiters gebeten, „Hora Gringo“ („Zeit der Ausländer“) zu definieren:

„Innerhalb von zehn Minuten des vereinbarten Zeitpunktes“ „pünktlich“ „fix definierte Zeit“, „nordamerikanische Zeit“ „white people’s time“;„wurde von Gringos erfunden, die sich wahrhaftig geärgert haben, dass sie schon wieder ewig warten mussten“, „wurde von den ‚corporatized‘ Gringos erfunden, sie geben damit ein negatives Urteil ab über Menschen die nicht ‚corporatized‘ sind.“ „It better be when it is“ „Falls mit allem Nachdruck darauf hingewiesen wird, dass es unbedingt erforderlich ist, dass sie pünktlich erscheinen, weil man sonst enorm wütend wird, dann ist es Hora Gringo.“ Es ist auffallend, das es eine eindeutige Zuweisung gibt, das diese Zeit, die Pünktlichkeit, auf „Weiße“ oder „Gringos“ zutrifft und von den Nicaraguanern nur gegen Androhung von Strafe, wie enormem Zorn, zu ertrotzen ist.

Eine weiter Frage war jene nach dem Ursprung von „Hora Nica“. Einige Teilnehmer meinten, dass der Begriff „Hora Nica“: von Gringos erfunden worden ist. Dies ist „[…] weil sie fürchterlich irritiert waren, dass die Nicaraguaner sich nicht schnell genug bewegen.“ Andere meinten „Es fehlt den Nicaraguanern jedes Verständnis für Pünktlichkeit, weil sie gar keinen Grund sehen, sich darüber Sorgen zu machen. Es gibt andere Dinge, die sind viel wichtiger.“ „Dass niemand [jemals] zornig wurde, dass Leute nicht zum vereinbarten Zeitpunkt erschienen. Und dass es den Nicaraguanern egal ist, dass sie mit ihrer Verspätung anderen Menschen Schwierigkeiten bereiten.“

Aber können die Nicaraguaner selbst mit ihrer steten Verspätung leben? Sind sie geduldiger? Die internationalen Teilnehmer der Umfrage schätzten die Nicaraguaner wie folgt ein: „ Die Nicaraguaner erwarten kaum sofortige Ergebnisse.“ „Nicaraguaner sind nie in Eile und werden nicht ungehalten, wenn Dinge nicht wie geplant verlaufen.“ „Falls etwas nicht zeitgerecht erledigt wird, wird es eben später getan. Vielleicht glauben die Nicaraguaner an einen großen Plan.“

Foto: Marliese Mendel

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All das führte zur Frage nach der Lebensqualität. Wer hat mehr Stress, Nicaraguaner oder Nordamerikaner. Die Antworten waren eindeutig: „Armut, Arbeitslosigkeit und Ungewissheit über die finanzielle Sicherheit kann Nicaraguaner stressen. Frustration über die Langsamkeit der Nicaraguaner kann die Gringos stressen.“ „Die Nordamerikaner müssen Fisch und Mangos kaufen, die Nicaraguaner holen die Früchte vom Baum und den Fisch aus dem Meer.“ „Nordamerikaner sind gestresster, weil sie mehr besitzen und je mehr sie besitzen umso mehr Energie braucht es, all die Dinge zu erhalten.“

Wirtschaft

In Mittel- und Nordeuropa sowie in Nordamerika sind die Menschen meist pünktlich.

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Robert Levine, Professor für Psychologie an der California State University in Fresno hat Länder nach ihrer Gehgeschwindigkeit untersucht und er kam zu dem Schluss: je weiter entwickelt die Wirtschaft ist, umso schneller bewegen sich die Menschen.6 Heißt das, dass die Wirtschaft in Nicaragua sehr schlecht entwickelt ist, dass die Nicaraguaner weniger geschäftstüchtig sind als die pünktlichen Planetenbewohner?

Glaubt man den erschütternden Wirtschaftsdaten, so scheint es tatsächlich so zu sein. 76 Prozent der Nicaraguaner arbeiten in der Schattenwirtschaft und 40 Prozent der Erwerbstätigen sind unterbeschäftigt. Auf dem Land leben 65 Prozent von weniger als eineinhalb Dollar am Tag. Eine fünfköpfige Familie benötigt im Monat 470 Dollar, um über die Runden zu kommen – das ist das Dreifache des Mindestlohns7.

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Auf die Frage, ob die Unpünktlichkeit der Nicaraguaner Auswirkungen auf die Wirtschaft hat, waren die Antworten eindeutig: „Effizienzverluste, aber auch weniger Stress, sollten sich bestimmte Aktivitäten unvorhergesehen verlängern.“„[Wenn man zu spät kommt, dann] verliert man den Respekt der anderen Menschen.“ [Es kommt oft vor, dass] „sie ihren Job verlieren, weil sie unpünktlich waren.“ „Manchmal können Sachen nicht erledigt werden. Und manchmal werden Sachen schneller erledigt, da durch die Verspätungen weniger Zeit übrig ist. Aber es bleibt keine Zeit zum Plaudern.“ [Die terminliche Unsicherheit ist] „ganz schlecht für Investitionen“, [Die Unpünktlichkeit wird als] „fehlender Respekt [den Wirtschaftstreibenden gegenüber angesehen] und lässt die Schlussfolgerung zu, dass Nicaraguaner nicht richtig funktionieren.“ [Die Unpünktlichkeit sei] „entsetzlich für den Fortschritt.“ Nur ein Teilnehmer fand, dass „[dem] in Wirklichkeit wahrscheinlich nicht [so ist], aber es ist sehr irritierend für die Anderen.“

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Für einige der Befragten ist es klar, warum die Zeit in Nicaragua nicht ganz so wichtig ist: „In einem ländlichen, dörflich organisierten Leben ist es nicht notwendig, alles nach der Uhr zu richten.“ „[Subtropisches] Klima, einfaches Leben, die Grundnahrungsmittel die fast von selbst wachsen erlauben ein Leben mit weniger Zeitdruck“. „Wenn der Alltag nicht nach Effizienzkriterien organisiert ist, ist Pünktlichkeit nicht zwingend notwendig. Sie sehen Zeit nicht als wertvoll an, wahrscheinlich auch verursacht durch Arbeitslosigkeit“. „Es fehlt außerdem die Trennung von Arbeitsplatz und Heim. Viele Nicaraguaner arbeiten zu Hause und falls sie in Jobs außerhalb arbeiten, sind das meist MacJobs mit wenig oder keiner Verantwortung. Außerdem sind sie überzeugt, dass sowieso alles Gottes Wille ist.“

Den Analysen der Interviewpartner ist hinzuzufügen, dass es weitere Gründe für die schlechte Wirtschaftslage gibt: Korruption, schlechte Infrastruktur, fehlende Rechtssicherheit und stetige Stromausfälle.

Geschichtsschreibung

Foto: Marliese Mendel

Aufschluss über das Zeitempfinden gibt auch die Behandlung der Zeitalter in Nicaraguas Geschichte. Während in der mitteleuropäischen Geschichtsschreibung von zeitlich genau abgegrenzten Epochen gesprochen wird, wie dem „Dreißigjährigen Krieg“ oder der „Französischen Revolution“ verwenden die lateinamerikanischen Historiker die Namen der Staatsführer: Tiempo de Arnoldo (nach dem Staatspräsidenten Arnoldo Aleman, 1997-2002), Tiempo de Violetta (benannt nach Violeta Barrios de Chamorro, 1990-1996), Tiempo de Somoza8 oder jeweils herrschender Parteien: Tiempo de los Sandinistas. Eigentlich sollte es somit leicht möglich sein, genaue Zeitgrenzen zu setzten. In der nicaraguanischen Geschichtsschreibung ist es seit dem Tiempo de Zelaya (benannt nach Staatspräsident Jose Santos Zelaya, 1893-1910) ziemlich eindeutig, für welche Zeitperiode der jeweilige Begriff steht. Die Zeitabschnitte davor sind allerdings sehr ungenau definiert.

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Schon der Ursprung der Nicaraguaner ist historisch kaum belegt. Der Archäologe Geoffrey McCafferty, der in ganz Nicaragua Grabungsarbeiten durchgeführt hat und seit mehr als zehn Jahren auf der Suche nach der alten Hauptstadt Quauhcapolca ist, hat schon manches gefunden, aber keine alte Hauptstadt und keinerlei Hinweise, dass den Ureinwohnern Nicaraguas Zeit in irgendeiner weise wichtig gewesen wäre. In all den Jahren ist er auf kein Artefakt gestoßen, das einem Kalender oder Zeitmessgerät ähnlich sein könnte.

Die nicaraguanische Geschichtsschreibung beginnt mit den Spaniern. Christoph Kolumbus entdeckte Nicaragua bei seiner vierten Reise 1502. Als der Seefahrer ankam, waren seine Schiffe wurmzerfressen und seine Mannschaft war hungrig. Kolumbus notierte: „[…] es schien das Ende der Welt zu sein […]. 88 Tage lang sah ich weder die Sonne noch die Sterne […]. Die Schiffe hatten zerfetzte Segel, […] ein Großteil der Ladung war verloren. Der Gefährte von Kolumbus, Diego Mendez berichtet, dass die Qual 40 Tage dauerte, dass es als Nahrung nur verschimmeltes Brot gab und sie von den Stechmücken der nahe dem Ankerplatzes gelegenen Mangrovensümpfen ausgesaugt wurden. Nur 70 Seemeilen schafften sie in 40 Tagen. Aber dann segelten sie an einem Vorgebirge vorbei und der Himmel strahlte blau, sie schienen im Paradies zu sein, sie landeten in Nicaragua. Kolumbus nannte den Ankerplatz „Gracias a Dios“ („Dank sei Gott“).

Foto: Marliese Mendel

120 Seemeilen südlich von Gracias a Dios ankerten sie an einer Flussmündung, Seemänner wurden aus geschickt um an Land nach Nahrungsmitteln zu suchen. zwei Crewmitglieder ertranken und Kolumbus nannte den Fluss „Rio de los Desastres“ („Fluss des Unglücks“), der heute noch so heißt. Sie trafen auf keine Einwohner.

Es sollte aber noch 20 Jahre dauern, bis der 70igjährige Spanier Pedro Arias de Avila (alias Pedrarias) Expeditionen nach Nicaragua schicken sollte.

Einer der ersten Berichterstatter über die Ereignisse in Nicaragua ab 1514 war ein gewisser Pascual de Andagoya. Er war sichtlich erstaunt, dass die schönen Frauen Nicaraguas ihre Männer unter der Fuchtel hatten. Machte ein Ehemann seine Frau zornig, setzte sie ihn einfach vor die Tür. Der Gatte musste nun die Nachbarn anflehen bei seiner Gattin ein gutes Wort einzulegen, damit sie ihn wieder auf nimmt. Auch erwähnte Andagoya häusliche Gewalt, allerdings, dass die Frauen die Männer schlugen. Andagoya beschreibt den Zusammenhang zwischen Klima und Aktivitäten der Indianer: Es war den Einwohnern zu heiß, um nach Gold zu suchen9. In Andagoyas Bericht findet sich aber keinerlei Hinweis auf Zeitrechnung oder Kalender. Der Volksmund erzählt, dass bereits der nicaraguanische Häuptling Nicarao den spanischen Eroberer Gil González Dávila eine Stunde10 vor ihrem ersten Treffen im Jahr 1522 warten liess.

Nicaragua muss den Konquistadoren als Paradies erschienen sein. Die Bewohner Nicaraguas ernteten, ohne zu sähen und anstatt in der Hitze zu arbeiten, lagen sie lieber in ihren Hängematten. Schien es doch, als würden Bananen, Mangos und Papayas ihnen direkt in den Mund wachsen. Sie jagten jedoch, fischten und züchteten Schweine. Auch das Geld wuchs buchstäblich auf den Bäumen. Verwendeten sie doch Mandeln und Kakaobohnen als Zahlungsmittel11. Aber wer waren die Ureinwohner des Paradieses?

Kam mit den Einwanderern aus dem Norden die Zeitmessung nach Nicaragua?

Das Volk der Nicarao ist entweder zwischen 900 und 1200 n. Chr oder 1422 aber sicher von Mexiko kommend nach Rivas gewandert12. Auf der Suche nach dem „gelobten Land“ – eine Prophezeiung versprach, „wenn ihr ein großes Meer und eine schöne Insel mit zwei großen Vulkanen darauf entdeckt, dann seid ihr im gelobten Land angekommen“13. Haben nun die Einwanderer den Kalender mitgebracht?

Ethnohistorischen Berichten zufolge wurde in Mittelamerika ein 260-Tages-Ritualkalender verwendet14. Der rituelle Kalender hatte 260 Tage und setzte sich aus 20 Zeichen zusammen. Jeder Tag war nach einem Gott benannt. Es gab 13 Monate. Der Kalender wurde für die Festlegung von Feiertagen, Vorhersagen und individuelle Schicksalsvorherbestimmungen benutzt. Zusätzlich gab es den weltlichen Kalender, der in 18 Abschnitte gegliedert war. Am Ende jedes Abschnittes, nach 20 Tagen, wurde ein Fest gefeiert. Somit zählten sie 360 Tage. Die restlichen fünf Tage galten als „unglücklich“ und die Azteken waren angehalten, an diesen Tagen nichts zu unternehmen. Die beiden Kalendersysteme wurden verbunden. Alle 52 Jahre gab es die gleiche Kombination der beiden Kalendersysteme15. Nahte das Ende eines der 52-Jahre-Zyklen, wurde das durch einen Priester auf der Spitze einer Pyramide stehend verkündet. Die Menschen wurden panisch, zerschlugen Haushaltsgeräte, zertrümmerten Stelen und stockten die Pyramiden auf. Sie waren überzeugt, dass irgendeine Katastrophe den Stillstand des Universums verursachen würde16. Das Ende des Zyklus wurde mit einem großen Fest begangen. In einem geöffneten Brustkorb eines Menschen wurde ein Feuer entfacht17 und die Gefahr des Weltendes war für die nächsten 52 Jahre gebannt. Die Azteken und Mayas, die mutmaßlichen Vorfahren der Nicarao, zogen sich dann neue Kleider an, bauten neue Gerätschaften und bepflanzten die Maisfelder wieder18. 1507 soll diese Zeremonie in Mexiko das letzte Mal stattgefunden haben19. Von diesen zyklischen Kalender und den entsprechenden Riten, die für große Teile Mittelamerikas nachgewiesen werden können, gibt es in Nicaraguas Geschichte allerdings keine Belege. Es könnte aber daran liegen, dass die Konquistadoren die schriftlichen Quellen, die es sehr wohl gegeben hat, zerstört haben. Den spanischen Überlieferungen zufolge hatten die Nicaraos Bücher aus Hirschleder benutzt20. Allerdings ist über die Inhalte nichts bekannt.

In Nicaragua gibt es zwar Pyramiden, sie entsprechen aber weder der aztekischen noch der Maya-Bauart. Im Jahr 2003 finanzierte die amerikanische Schriftstellerin Carol Megge ein Team nicaraguanischer Anthropologen, um sich auf die Suche nach einer dieser Pyramiden zu begeben. Sie fanden sie in Garrobo Grande, 14 Kilometer von La Gateada entfernt. Allerdings waren die gefundenen Pyramiden im Gegensatz zu den Pyramiden der Azteken nur acht Meter hoch, 40 Meter lang und 30 Meter breit. Erstmals erwähnt wurde ihre Existenz im Jahr 1853, großteils wurden die Pyramiden von Schatzsuchern zerstört21. Ob auf diesen Pyramiden tatsächlich Priester das vermeintliche Ende der Welt verkündeten, ist nicht überliefert.

Ob nun der Cazique Nicarao den spanischen Konquistador Gil Gonzalez Dávila tatsächlich eine Stunde hat warten lassen, kann nicht mehr nachvollzogen werden. Aber das Gespräch zwischen den beiden ist überliefert. Nicarao fragte Dávila, ob die Christen etwas über die immer wieder kehrenden Sintfluten wissen, ob die Welt durch eine Umkehrung des Planeten oder durch einen Asteroiden zerstört werden würde, ob die Christen verstehen, warum es zeitweilig kalt und dunkel ist, wenn es doch angenehmer ist, wenn es warm und hell ist22. Diese philosophischen Fragen könnten tatsächlich daraufhin deuten, dass die Nicaraos ein zyklischen Kalender wie jenen der Mayas oder Azteken verwendeten. Man kann aus dem überlieferten Gespräch den Schluss ziehen w, dass sich der Cazique vor den zyklisch wiederkehrenden Ungemachen tatsächlich auf einen Kalender berief23.

Die Geschichte von der Fischprinzessin

Es gibt eine Erzählung, die zeigt, dass Nicaraguaner doch pünktlich sein können und vor allem viel Geduld haben. Die Fischprinzessin Xochilnahual soll die Tochter des Häuptlings Nicarao gewesen sein. Der herrschsüchtiger Bruder des Häuptlings ließ das Mädchen entführen und erpresste ihn. Doch dieser weigerte sich, den Forderungen nachzugeben und so blieb die Tochter verschwunden. Der böse Bruder ließ die Prinzessin deshalb von Hexern in einen Fisch verwandeln. All die Magier des Häuptlings Nicarao konnten sie nicht wieder zurückverwandeln, aber sie erreichten zumindest, dass die Prinzessin alle 52 Jahre als Mensch zurückkehren konnte. Ein junger Fischer sah sie, verliebte sich, doch die Prinzessin verschwand wieder in der Lagune Nocarime. Der Fischer erfuhr, dass sie in 52 Jahren wieder auftauchen würde. Geduldig zählte er die Tage, Monate und Jahre, bis Xochilnahual wieder erscheinen würde. Als der Tag endlich gekommen war, war er schon ein alter Mann. Die Geschichte geht schlecht aus, er wartete den ganzen Tag auf ihre Erscheinung, doch er sah sie nicht. Als er am Abend enttäuscht nach Hause kam, servierte ihm seine Schwester Fischsuppe. Sie war aus einem Riesenfisch gemacht. Der arme Fischer wusste, dass es seine Prinzessin war. Er aß die Suppe trotzdem auf24.

Zu beachten ist, dass in dieser Geschichte auf den Neuanfang alle 52 Jahre Bezug genommen wird und man immer ein Desaster erwartet. Bestimmt ist als es große persönliche Katastrophe anzusehen, wenn ein Mann 52 Jahre lang auf die geliebte Frau gewartet hat, nur um sie dann als Fischsuppe zu verzehren. Die Geschichte kann somit als volkstümliche Variante des kosmischen 52-Jahre-Zyklus gelesen werden.

Heute bezweifeln Historiker, dass es den Häuptling Nicarao überhaupt gegeben hat.

Sind Nicaraguaner Müßiggänger oder genügsam?

Die ersten Berichte über Nicaragua stammen von Fernandez de Oviedo 1559 und Fray Bartolome de las Casas. Oviedo schrieb, dass die Indianer25 Müßiggänger wären, dass sie nicht gerne arbeiten. Las Casas war anderer Meinung: Die Indianer seien keine Müßiggänger, sondern arbeiten, um zu leben und das Notwendige zu erwirtschaften. Sie hätten kein Interesse daran, reich zu werden, so bliebe ihnen einfach viel Zeit um zu spielen, zu tanzen und sich Geschichten zu erzählen. Der mexikanische Professor, Sergio Pardo Galván, schloss daraus, dass die Beschreibung Las Casas‘ heute noch in den mittelamerikanischen Ländern gilt. Sie messen die Zeit nicht mit der Uhr, sondern mit dem Leben: Am Leben der Gemeinschaft, am Rhythmus der Landwirtschaft, an der Beschaffenheit des Himmels, am Regen, am Wald u.s.w.. Deshalb können Feste tagelang und Gespräche zwischen Freunden stundenlang dauern. Diskussionen über Probleme in der Gemeinschaft werden einfach so lange fortgeführt, bis eine Lösung gefunden ist und richten sich nicht nach der Uhr26.

Epochenbezeichnungen in der nicaraguanischen Geschichtsschreibung

Auch ist die nicaraguanische Geschichtsschreibung anders strukturiert, als die europäische, wo man von Epochen wie Aufklärung oder Renaissance spricht oder kurze Zeitperioden höchstens mit einem Krieg übertitelt. Die Zeiten werden nach ihren bösesten Regenten Arrachevala, Zelaya, Somoza, el Gordo und nur einer Guten: Violetta benannt.

„En tiempos de hilo azul“

Es gibt im heutigen nicaraguanischen Sprachgebrauch den Ausdruck: „en tiempos de hilo azul“ – „in Zeiten des blauen Fadens“. Es ist nicht nachvollziehbar, aus welcher Zeit der Spruch stammt. Das Wort „azul“ bedeutete bei den Mayas „Ausländer“ und wurde als Bezeichnung der Konquistadoren verwendet. Aber es gibt auch andere Interpretationen: Der nicaraguanische Schriftsteller Coronel Urtecho glaubte, dass sich „hilo azul“ tatsächlich auf einen blauen Faden bezog, den die Einwohner Nicaraguas vor und nach der Eroberung durch die Spanier alltäglich gebrauchten27. Andere wiederum meinen, der Ausdruck beziehe sich auf die Wichtigkeit des Indigo-Farbstoffs. Im 17. und 18. Jahrhundert war Indigo eines der wichtigsten Handelsgüter in Mittelamerika28. Wenn jemand von „tiempos de hilo azul“ spricht, dann kann das den Zeitraum von der Einwanderung der Nicaraos bis hin zum Ende des 18 Jahrhunderts deuten. Somit ist auch dieser Epochenbegriff weniger eine genaue Zeitangabe als vielmehr eine Variante eines ungewissen „damals“.

„En tiempo de Arrechavala“

Ein weiterer Ausdruck ist „En tiempo de Arrechavala“29. Eigentlich wäre dieser Zeitabschnitt ganz leicht zu bestimmen: Jose Antonio Arrechavala y Abrocia de Vilchez, geboren 1728 in Spanien, wurde vom spanischen König Karl IV am 14. Februar 1791 nach Mittelamerika geschickt, er starb 1823 95-jährig. Er war von 1813 bis 1819 der Governeur der Provinz Nicaragua. So wäre „Tiempo de Arrechavala“ ganz einfach zu bestimmen: gemeint wären dann die 20 Jahre vor der Unabhängigkeitserklärung. Aber es wäre nicht die nicaraguanische Zeitrechnung, gäbe es nicht ein kleines Problem: Weil der Spanier, glaubt man der Überlieferung, als Geist in Leon die Bewohner erschreckt30. Die Gespenstergeschichte hat verschiedene Wurzeln: Eine Variante erzählt, dass die Tabakschmuggler aus Honduras den Geist erfunden hätten, um ungestört ihre illegalen Waren durch Leon zu transportieren zu können. (Es gab tatsächlich zwischen 1780 und 1821 immer wieder Verbote gegeben, entweder Tabak anzupflanzen, zu importieren oder exportieren31.) Andere wähnen den Ursprung der Geschichte in den unglaublichen Reichtümern, die Arrechavala angehäuft hatte.Wieder andere vermuten, dass Arrechavala immer noch nach dem von ihm vergrabenen Schatz suche32. Die Nicaraguaner sind fest davon überzeugt, dass man keinerlei Reichtümer in der Welt lassen darf, weil das nur zu Unglück führen würde. Arrechavala jedenfalls soll seinen Schatz angehäuft haben, indem er die Armen ausgeraubte. Besonders nach der Unabhängigkeitserklärung von 1821 ist er brutal gegen die Eingeborenen vorgegangen33. Jedenfalls soll er immer noch regelmäßig in Militäruniform auf seinem Pferd reitend nach dem von ihm vergrabenen Schatz suchen34.

„En Tiempo de Zelaya“

Spricht jemand von „Tiempo de Zelaya“, meint er wahrscheinlich die Zeit der Regierung von Jose Santos Zelaya von 1893 bis 1909. Zelaya hatte sich 1893 an die Macht geputscht und wurde 1909 von den Konservativen, die von den USA unterstützt worden waren, wieder gestürzt35. Der Sohn eines reichen Kaffeebauen modernisierte das Land. Straßen wurden ausgebaut, Eisenbahnstrecken und Häfen verbessert. 1894 wurde die Mosquitia in das nicaraguanische Staatsgebiet eingebunden36.

Im November 2010 wurde eine Sonnenuhr aus dem Jahr 1781 in Nicaragua in die Liste der Nationalgüter aufgenommen. Die steinerne Sonnenuhr war jahrelang als Referenzpunkt an der Kreuzung des Schienenweges zwischen la Paz Vieja und Managua gestanden37. Der Ort, an dem die Sonnenuhr stand, heißt heute noch La Cuesta del Reloj (etwa: Der Uhrenhügel) . Dort hatte der damalige Präsident Zelaya den letzten Nagel zur Fertigstellung der Eisenbahnverbindung am 26. Juni 1902 eingeschlagen. Der Nagel war aus Gold38.

Aber Zelaya hatte es sich mit den Nordamerikanern verscherzt. Er versuchte gegen den Widerstand der USA eine zentralamerikanische Föderation zu gründen. Außerdem hatte er Verhandlungen mit europäischen Staaten und Japan aufgenommen, wo es um den endgültigen Bau des Kanals ging. Verstöße gegen das Eigentumsrecht von US-Unternehmern und die Verhandlungen führten zur Entsendung von Marineinfanteriekorps und schließlich zum Sturz Zelayas. Mit ihm endete das liberale Nicaragua. Von 1912 bis 1925 wurde Nicaragua von den Amerikanern besetzt gehalten39.

„En el tiempo de Somoza“

Das Terrorregime von Anastasio Somoza hätte verhindert werden können, wäre er pünktlich gewesen. Der Diktator wäre beinahe am 4. April 1954 ermordet worden. Aber da er zu spät war, lauerten die Guerillas umsonst am Straßenrand des Highways nach Montelimar. Die nicaraguanische Geschichtsschreibung ist sich uneinig, ob der Diktator beim amerikanischen Botschafter Rinder anschaute40 oder beim spanischen Botschafter die neue Pferde aus Argentinien begutachtete. Jedenfalls kam er nicht pünktlich an jenem Ort vorbei, an dem er hätte ermordet werden sollen. Natürlich hätten die Aufständischen weiter warten können, aber leider hatte ein Mitverschwörer kalte Füße gekriegt und sie an den Geheimdienst verraten. Als Somoza von dem Mordversuch hörte, sagte er nur: „Ich habe über die Baumwollernte nachgedacht“41.

Vorbildwirkung des amtierenden Präsidenten

Auch der aktuelle, verfassungswidrig wiedergewählte Präsident Daniel Ortega ist kein Vorbild in Sachen Pünktlichkeit. Er regiert das Land von seinem Privatwohnsitz aus. Durch WikiLeaks sind Depeschen von amerikanischen Diplomaten aus Nicaragua an das Weiße Haus publik geworden. Die Diplomaten schrieben nicht nur über die unpräzise und unordentliche Regierungsform, über die korrupten Politiker und Polizisten, die enge Beziehungen zu organisierten Verbrechen haben, sondern auch über die enorme Unpünktlich des Präsidentenehepaares42.

Als Beispiel führen sie an, dass Ortega und seine Frau zum feierlichen Empfang einer Plastikfigur des Heiligen Juan Bosco am Flughafen in Managua rund eine Stunde zu spät kamen. Der Glassarg mit der Figur des Gründers des Salesianerordens war seit drei Jahre durch Lateinamerika gereist und hatte die Reise bisher gut überstanden. Durch Ortegas Verspätung war der Reliquienbehälter eine Stunde lang der enormen Sonneneinstrahlung ausgesetzt. Der zuständige Reisebegleiter der Statue fürchtete um die originalen Gewänder sowie um die Reliquie des rechten Unterarms. Denn schließlich sollte der Plastikheilige noch insgesamt 130 Länder bereisen43.

Sind alle Lateinamerikaner unpünktlich?

Nicht einmal auf die Radiostationen kann man sich verlassen. Radiostationen wie das Staatsradio, Radio Corporacion und Radio Ya geben verschiedene Uhrzeiten an44. Aber nicht nur Nicaraguaner kommen pausenlos zu spät. In Peru wurde eine Kampagne gegen die pausenlose Verspätung der Bürger ins Leben gerufen. Eine Umfrage ergab, dass 84 % aller Peruaner stets zu spät zu ihren Verabredungen kommen. Besonders lästig war die stete Verspätung, meist eine Stunde, des peruanischen Präsidenten Alejandro Toledo (2001-2006) für die Journalisten. Daraufhin befragt, sagte er nur, er habe die Uhrzeit seines Heimatlandes, „la hora cubana“, mit nach Peru gebracht45. Der Präsident Alan Garcia, Nachfolger von Toledo, muss sich fürchterlich geärgert haben, dass sein Vorgänger sogar eine Stunde zu spät zur offiziellen Amtsübergabe kam46. Der Vorsitzende der Nationalisten kam 20 Minuten zu spät zu einer Fernsehdebatte, weil er noch ein Truthahnsandwich essen musste.47

Am 1. März 2007 begann die Aktion „muerte a la hora Cabana“ (wortwörtlich: Tod der Hütten-Stunde) in Lima. Man stellte gemeinsam die Uhren ein. Um Punkt 12.00 Uhr gingen in Peru die Sirenen der Polizeiautos und der Feuerwehrautos los und die Kirchenglocken läuteten48. Es gab auch ein Maskottchen, den „Horacio“49. Die Aktion endete am 27. Juli und von da an sollten alle Peruaner pünktlich sein50.

Auch der ecuadorianische Präsident Lucio Gutierrez (2003-2005) versuchte ähnliches, weil er errechnet hatte, dass die Unpünktlichkeit seinem Land pro Jahr rund 2300 Millionen US-Dollar kosten würde. In Bolivien versucht Evo Morales mit gutem Beispiel voranzugehen, indem er seine Arbeitszeiten fix festlegte, von fünf Uhr morgens bis Mitternacht. In Columbien gibt es den Spruch: „Despues de la gente, lo que mas se pierde en el pais es el tiempo“ (Was, abgesehen von den Leuten, am meisten verschwindet, ist die Zeit.)

In Argentinien empfahl man den chronisch verspäteten Menschen sogar, zum Psychologen zu gehen51. Vor allem deshalb, weil weder Züge noch Flugzeuge jemals pünktlich starten. Schuld seien die Spanier, weil mit ihnen die Unpünktlichkeit nach Lateinamerika gekommen sei52. Im Parlament führte man eine Geldstrafe für zu spät erschienene Kabinettsmitglieder ein. Bis Mai 2011 kam der Minister für Umwelt und öffentlichen Raum am häufigsten zu spät53. Den argentinischen Komponisten Pablo Bensaya inspirierte die Unpünktlichkeit dazu, ein Kinderlied mit dem Titel „Impuntualidad“ (Unpünktlichkeit) zu komponieren. Er versuchte damit, die Kinder zu überzeugen, dass gut erzogene Kinder pünktlich eien54.

Die Meister im Zu-Spät-Kommen scheinen jedoch die Bewohner der Dominikanischen Inseln zu sein. Ein Blogger beschwert sich darüber, dass die Inselbewohner immer fünf Stunden zu spät zu Verabredungen erscheinen.55

Schlussfolgerungen

Haben also die Nicaraguaner recht, wenn sie sich nicht dem Zeitregime der sogenannten entwickelten Länder unterwerfen? Wie viele andere Völker haben sie ein eigenes Zeitkonzept. Das Volk der Kachin in Burma unterscheidet zwischen menschlicher Lebenszeit oder langen und kurzen Zeitspannen. Für arabische Völker gibt es die Jetzt-Zeit, überhaupt keine Zeit und die Ewigkeit. In Kisuaheli gibt es kein Wort für Unpünktlichkeit. Dafür haben sich etwa in Kenia eigene Berufe entwickelt, um etwa lange Wartezeiten zu vermeiden. Da es Stunden dauern kann, bis man zum Schalterbeamten vordringt, gibt es Männer die sich gegen Lohn anstellen, also professionelle Warter sind56.

Mangelt es den Europäern an Zeitwohlstand und lassen sie sich vom Zeitterrorismus den Lebensrythmus vorgeben? Der amerikanische Wirtschaftshistoriker David Landes führt die Überlegenheit der Europäer gegenüber anderer Kulturen auf die Erfindung der mechanischen Uhr zurück. Der Kapitalismus kann ohne die Zeitmessung nicht funktionieren.57

Spätestens seit sich Wortkreationen und Philosophien wie „Quality-Time“ in unseren Sprachgebrauch und unser Leben eingefunden haben, sollten wir Europäer vielleicht überdenken, ob die Zeitdiktatur und der Pünktlichkeitswahn tatsächlich der richtige Weg sind oder ob nicht mehr Zeitfreiheit erstrebenswert sei. Einige der Befragten meinten, die Nicaraguaner seien eigentlich immer pünktlich, weil sie kämen wann es ihnen am besten passe. Sie sähen es eher als Zeitverschwendung pünktlich zu sein.“

Verwendete Quellen:

Die im Text zitierten Fragebögen liegen der Autorin vor.

1vgl. Christa A. Tuczay, Magie und Magier im Mittelalter (DTV 2001, S. 81)

2Dr. Lynn Harry Nelson, Lectures in Medieval History, http://www.vlib.us/medieval/lectures/gerbert.html (abgerufen am 16.12.2011)

3Edwin Sanchez, El vicio national: La impuntualidad, ,Nuevo Diario, 24 Juni 1999 (http://archivo.elnuevodiario.com.ni/1999/junio/24-junio-1999/estasemana/estasemana5.html – abgerufen am 16.12.2011)

5Edwin Sanchez, El vicio national: La impuntualidad, ,Nuevo Diario, 24 Juni 1999

6Robert Levine, Eine Landkarte der Zeit, Wie Kulturen mit Zeit umgehen, Piper, München 1999, S. 38

7Verena Kainrath, Jahre der Trauer werden folgen, Standard, 05.November 2011

8Hier zeigt sich bereits die Ambivalenz bei der Definition, weil nicht genau definiert ist, welcher der drei Staatspräsidenten namens Somoza gemeint ist. Der gesamte gemeinte Zeitraum könnte von 1937-1979 sein.

9Pascual de Andagoya, Pedrarias Davila, Hakluyt Society, London 1765, S. 33 ff

10Edwin Sanchez, El vicio national: La impuntualidad, ,Nuevo Diario, 24 Juni 1999

11Frank Niess, Das Erbe der Conquista, Geschichte Nicaraguas, Pahl-Rugenstein, 1987, S. 15

12Paul Francis Healy, Mary Pohl, Archaeology of the Rivas region, Nicaragua, Wilfrid Laurier University Press, 1980, S. 24

13Eduardo Manfut, Señorio indigena junto al Cocibolca, zitiert nach Rigoberto Villarreyna Castrillo, Raices ocultas de la isla de Ometepe, (Fondo Editoral CIRA/Managua/2000) auf www.manfut.org/rivas/ometepe2.html (abgerufen am 16.12.2011)

14Paul Francis Healy, Mary Pohl, Archaeology of the Rivas region, Nicaragua, Wilfrid Laurier University Press, 1980, S. 346

15Peter Sandmaier, Azteken und Spanier, Das Aufeinandertreffen zweier Großmächte, GRIN Verlag, München, 2008, Seite 14 bis 16

16Lutz Götze, Zeitkulturen, Gedanken über die Zeit in den Kulturen, Peter Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main 2004, S. 189 bis 190

17Peter Sandmaier, Azteken und Spanier, Das Aufeinandertreffen zweier Großmächte, GRIN Verlag, München, 2008, Seite 14 bis 16

18Lutz Götze, Zeitkulturen, Gedanken über die Zeit in den Kulturen, Peter Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main 2004, S. 189 bis 190

19Peter Sandmaier, Azteken und Spanier, Das Aufeinandertreffen zweier Großmächte, GRIN Verlag, München, 2008, Seite 14 bis 16

20Paul Francis Healy, Mary Pohl, Archaeology of the Rivas region, Nicaragua, Wilfrid Laurier University Press, 1980, S. 30

21Valeria Imhof, Asombor de expertos por Piramides nicas, Nuevo Diario, 15. Juni 2003 (http://archivo.elnuevodiario.com.ni/2003/junio/15-junio-2003/nacional/nacional7.html, abgerufen am 14.11.2011)

22Historia de Nicaragua Tomo I, Capitulo VI, Descubrimiento de Nicaragua por Gil Gonzalez Davila, S. 154 (www.enriquebolanos.org, abgerufen am 07.11.2011)

23Lutz Götze, Zeitkulturen, Gedanken über die Zeit in den Kulturen, Peter Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main 2004, S. 187

24Carlos Alberto Ampie Loria, Nicaraguanische Legenden und Volkserzählungen, www.nicaraguaportal.de/index.php?id=2879 (abgerufen am 06.11.2011)

25Die spanischen Quellen sprechen von Indios, allerdings wird das Wort heute als herabwürdigend empfunden. Die Autorin folgt den Originalquellen.

26Sergio Prado Galván, Comentario de los textos de Fray Bartolome de las Casas: Contra Fernandey de Oviedo y Contra Gines de Sepulveda, Teoria y critica de la psicologia, Numero 1, Enero 2011. (www.teocripsi.com/2011/1prado.pdf abgerufen am 06.11.2011)

27Christina Maria van der Gulden, Vocabulario Nicaragüense, Imprenta UCA, 1995, S. 351

28Memoria, creacion e historia, Pilar Garcia Jordan, Miguel Izard, Javier Lavina, Universidad de Barcelona, 1994, S. 25

29Christina Maria van der Gulden, Vocabulario Nicaragüense, Imprenta UCA, 1995, S. 351

30El coronel Arrechavala, El Nuevo Diario, 16.10.2008 (http://impreso.end.com.ni/2008/10/16/suplemento/misteriosyenigmas/9425 – abgerufen am 16.12.2011)

31Victor Hugo Acuna Ortega, Historia Economica del Tabaco en Costa Rica: Epoca Colonial, 1976 (www.anuario.ucr.ac.cr/04-1-78/ACUNA.pdf abgerufen am 07.11.2011)

32El coronel Arrechavala, El Nuevo Diario, 16.10.2008

33Christina Maria van der Gulden, Vocabulario Nicaragüense, Imprenta UCA, 1995, S. 351

34El coronel Arrechavala, El Nuevo Diario, 16.10.2008

35Clifford L. Staten, The history of Nicaragua, Greenwood, Santa Barbara California, 2010, S. XIX

36Klaus Stüwe, Stefan Rinke (Hrsg.), Die politischen Systeme in Nord- und Lateinamerika, Eine Einführung, Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008, S. 418

37Reloj de Sol es declarado Patrimonio Cultural Historico de Nicaragua, La Voz del Sandinismo, 11. 11.2010 (http://www.lavozdelsandinismo.com/cultura/2010-11-11/reloj-de-sol-es-declarado-patrimonio-cultural-historico-de-nicaragua/ abgerufen am 07.11.2011)

38Breve Historia del ferrocarril de Nicaragua (www.manfut.org/managua/tren.html abgerufen am 07.11.2011)

39Klaus Stüwe, Stefan Rinke (Hrsg.), Die politischen Systeme in Nord- und Lateinamerika, Eine Einführung, Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008, S. 418

40Los asesinados de abril „muieron en combate“, 4. April 2005, La Prensa (www.archivo.laprensa.com.ni/archivo/2005/abril/04/nacionales/nacionales-20050404-03.html – abgerufen am 16.12.2011)

41Bernard Diederich, Somoza and the legacy of U.S. Involvement in Central America, Dutton, New York, 1981, S. 46

42Jose Adan Silva, Radiografia deprimente, 7. Dezember 2010, El Nuevo Diario, (www.elnuevodiario.com.ni/nacionales/89777 – abgerufen am 16.12.2011)

43Lenor Alvarez e Ingrid Duarte, Impuntualidad del Presidente Ortega casi echa perder la replica cuidada con celo, Reliquia de Don Bosco corrio serio peligro, 24. Juli 2010, El Nuevo Diario (www.nuevodiario.com.ni/nacionales/79673 – abgerufen am 16.12.2011)

44Erwin Sanchez, El vicio nacional: La impuntualidad, El Nuevo Diario, 24.06.1999 (http://archivo.elnuevodiario.com.ni/1999/junio/24-junio-1999/estasemana/estasemana5.html abgerufen am 09.11.2011)

45La impuntualidad, vicio nacional de Perú, La Flecha, 20.02.2007 (http://www.laflecha.net/canales/curiosidades/noticias/la-impuntualidad-vicio-nacional-de-peru, abgerufen am 09.11.2011)

46Perú inicia una cruzada contra la impuntualidad, 20.minutos.es 02.03.2007, (http://www.20minutos.es/noticia/207916/0/guerra/impuntualidad/peru/ abgerufen am 09.11.2011)

47Guerra contra la impuntualidad en Perú, El Mundo, 02.03.2007, (http://www.elmundo.es/elmundo/2007/03/01/internacional/1172782018.html, abgerufen am 09.11.2011)

48Peru, la hora sin demora: insolita compana contra la impuntualidad en sus pais, (http://www.26noticias.com.ar/peru-la-hora-sin-demora-insolita-campana-contra-la-impuntualidad-en-su-pais-34497.html, abgerufen am 09.11.2011)

49Perú inicia una cruzada contra la impuntualidad, 20.minutos.es 02.03.2007, (http://www.20minutos.es/noticia/207916/0/guerra/impuntualidad/peru/ abgerufen am 09.11.2011)

50Guerra contra la impuntualidad en Perú, El Mundo, 02.03.2007, (http://www.elmundo.es/elmundo/2007/03/01/internacional/1172782018.html, abgerufen am 09.11.2011)

51Fermin Kopp, Impuntualidad: ¿Un vicio nacional?, 15.06.2011, (http://notio.com.ar/sociedad/impuntualidad-un-vicio-nacional-13744, abgerufen am 09.11.2011)

52Guerra contra la impuntualidad en Perú, El Mundo, 02.03.2007, (http://www.elmundo.es/elmundo/2007/03/01/internacional/1172782018.html, abgerufen am 09.11.2011)

53Laura Reina, Impuntuales: la vida a deshora, www.lancaion.com.ar/1373232-impuntuales-la-vida-a-deshora (abgerufen am 16.12.2011)

55Rafael Perez, Porque somos impuntuales los dominicanos? 07. April 2010, http://www.Duarte101.com/2010/04/07/porque-somos-impuntuales-los-dominicanos (abgerufen am 16.12.2011)

56Horank Knaup, Ein anderer Kosmos , In: 4/10. Der Spiegel, Wissen, Mehr Zeit, Vom richtigen Umgang mit einem kostbaren Gut, Spiegel-Verlag Rudolf Augstein GmbH&Co.KG S. 32 – 35

57 Karl Heinz A. Geissler, Nicht die Zeit rennt, sondern wir rennen. In: 4/10. Der Spiegel, Wissen, Mehr Zeit, Vom richtigen Umgang mit einem kostbaren Gut, Spiegel-Verlag Rudolf Augstein GmbH&Co.KG, S. 23 – 27

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Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am März 9, 2012 von in Chasing a story und getaggt mit , , , .

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